Lawinenunglück Kemater Alm von 1963

Ein Bericht aus der Tiroler Tageszeitung von Hannes Gasser.

Die Befürchtungen, dass das sonntägige (1.4.1963) Lawinenunglück im Gebiet der Kemater Alm bei Innsbruck das Ausmaß einer Katastrophe angenommen hat, haben sich bedauerlicherweise bewahrheitet: Sämtliche neun Skiläufer, die von der Lawine verschüttet worden waren, haben den Tod gefunden. Dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit zwischen den Bergungsmannschaften, den Lawinensuchhunden und den Piloten des Flugrettungsdienstes, die sofort nach Bekanntwerden des Unglücks von Innsbruck aus in das Unglückgebiet eine Luftbrücke aufbauten, gelang es, alle Verschütteten bis Montag früh zu bergen. Für alle kam jedoch jede Hilfe zu spät. Es wäre auch, wenn man die Verschütteten früher gefunden hätte, kaum möglich gewesen, den einen oder anderen lebend zu bergen. Die Lawine hatte nämlich solche Ausmaße und eine derartige Wucht, dass die Verschütteten wahrscheinlich schon nach wenigen Minuten nach dem Unfall tot gewesen sein dürften.
Bei den Verunglückten handelt es sich um sieben Studenten und Studentinnen der Technischen Hochschule Berlin, die einen Skiurlaub auf der Adolf-Pichler-Hütte in den Kalkkögeln verbracht hatten, sowie um einen Skilehrer und um einen Hüttenträger, die sich am Sonntagmittag auf der Abfahrt von der Adolf-Pichler-Hütte zur Kemater Alm befanden.
Die deutsche Studentengruppe hatte auf der 1960m hoch gelegenen Adolf-Pichler-Hüte einen 14tägigen Urlaub verbracht und sich dort unter der Leitung von zwei Skilehrern der Skischule Axams mit den Grundbegriffen des modernen Skilaufes vertraut gemacht und auch einige kleinere Touren unternommen. Am Sonntagmittag, und zwar gegen 12.15 Uhr, verließen die deutsche Studentengruppe, die Skilehrer Walter Schober und Plattner, sowie der Träger Roman Pfausler die Adolf-Pichler-Hütte in Richtung Kemater Alm. Da die Studenten ziemlich viel Gepäck bei sich hatten, entschloss man sich, in drei Gruppen abzufahren. Der Skilehrer Plattner, vier Studenten und der Träger Pfausler wählten die Route entlang des Bachbettes, der Skilehrer Walter Schober, drei Studentinnen und ein Student fuhren hingegen über den Nordhang des sogenannten Sonntagskopfes im Volksmund „Suntiger“ genannt, in Richtung Kemater Alm.
Diese zweite Gruppe schnitt den lawinengefährdeten Nordhang des „Suntiger“ zu hart an und löste dadurch die Lawine aus. Unglücklicherweise befand sich zu diesem Zeitpunkt die Gruppe unter der Führung des Skilehrers Plattner nur 150 Meter von der Kemater Alm entfernt, in einer kleinen Mulde und war damit beschäftigt, den mit Gepäck beladenen Akja über den Bach und zur Kemater Alm zu ziehen. Obwohl der Skilehrer Plattner sofort den Abgang der Lawine bemerkte und seine Leute aufforderte, den Akja liegenzulassen und sich auf dem zum Hoadl aufsteigenden Hang in Sicherheit zu bringen, donnerten die Schneemassen mit einer derartigen Wucht und Geschwindigkeit heran, dass die gesamte Gruppe verschüttet wurde.
Plattner, der als einziger von den Schneemassen nicht völlig zugedeckt worden war, konnte sich rasch befreien und fuhr, nachdem er die Ausmaße dieser Katastrophe erkannte, nach Axams, von wo aus die Gendarmerie, der Bergrettungsdienst, die Bergwacht und der Flugrettungsdienst verständigt wurden.
Auch die zweite Gruppe, die durch ihr zu scharfes Anschneiden des Nordhanges des Sonntagskopfes die Katastrophe ausgelöst hatte, wurde von den niedergehenden Schneemassen erfasst und verschüttet. Lediglich der letzte Skiläufer dieser fünfköpfigen Gruppe, der auf der Abfahrt etwas zurückgeblieben und nur vom Rand der Lawine erfasst worden war, kam mit Prellungen und leichteren Verletzungen davon. Die anderen vier Skiläufer fanden hingegen den Tod.
Den bereits eine Stunde nach dem Unglück eintreffenden ersten Bergungsmannschaften und zahlreichen freiwilligen Helfern bot sich am Sonntagnachmittag ein erschütterndes Bild. Die Lawine selbst hatte nämlich eine Breite von zirka einem Kilometer, war rund 700 Meter lang und bis zu sieben Meter tief. Dank des raschen Einsatzes der Piloten des Flugrettungsdienstes, und zwar der Inspektoren Bodem, Neumayr und Landl, die mit zwei Piper-Maschinen und einem Hubschrauber Bergungsmaterial und drei Lawinenhunde zur Unfallstelle brachten, sowie der 23 Mann der Bergrettung, der 6 Alpingendarmen und der 7 Bergwachtmänner war es möglich, im Laufe des Nachmittags und des Abends die der Gruppe Plattner angehörenden Verschütteten zu bergen.


Während der Nacht gelang es dann den, durch 40 Mann des Bundesheeres verstärkten Bergungs-Mannschaften, im Fackelschein, auch die Verschütteten der Gruppe Schober den Schneemassen zu entreißen.
Hervorragend bewährt haben sich bei diesen Bergungsarbeiten die treuen vierbeinigen Helfer der Retter, die Lawinensuchhunde. Wenn es in diesem Fall auch nicht gelang, die Verunglückten zu retten, so tragen die Suchhunde doch ein großes Maß an Verdiensten an der Tatsache, dass die Suchaktion, vor allem während der Nachtstunden zum Montag und angesichts der riesigen Ausmaße der Lawine, rasch abgeschlossen werden konnte. Nicht weniger als sieben, der drei bis vier Meter tief Verschütteten, wurden durch die Lawinensuchhunde aufgespürt.
Ein Bravourstück lieferte auch der Pilot des Flugrettungsdienstes Gendarmerie Inspektor Landl. Der Rettungsflieger war mit dem Hubschrauber des Flugrettungsdienstes am Sonntag in das Unfallsgebiet geflogen und dort gelandet. Es brach Nebel ein und der Pilot konnte nicht mehr starten, so dass er mit seiner Maschine „festsaß“. Als am späten Abend die Sichtverhältnisse wieder etwas besser wurden, entschloss sich Inspektor Landl trotz der Dunkelheit – der Hubschrauber ist für den Blind – bzw. Nachtflug nicht eingerichtet – nach Innsbruck zu starten. Um etwa 22.15 Uhr landete die Maschine auf dem Alpenflughafen.
Das Lawinenunglück im Gebiet der Kemater Alm ist das schwerste in Tirol seit dem Katastrophenwinter 1951/52, als insgesamt über 50 Menschen den Tod unter den Schneemassen gefunden hatten. Es hätte sicher vermieden werden können, wenn die den Nordhang des Sonntagskopfes querende Skiläufergruppe die seit einigen Tagen in diesem Gebiet anhaltende Lawinengefahr beachtet hätte. Eine Abfahrt von der Adolf-Pichler-Hütte zur Kemater Alm auf der Route des Sommerweges wäre sicher ohne Folgen geblieben. So aber haben wiederum der Leichtsinn und die Verkennung der Gefahren neun Menschenleben gefordert.
Zu der Katastrophe im Gebiet der Kemater Alm wird man vielerorts, vor allem im Ausland einwenden, dass die deutschen Studenten, die am Sonntagnachmittag von Grinzens aus die Heimreise hätten antreten wollen, unter der Führung von zwei Skilehrern von der Adolf-Pichler-Hütte zur Kemater Alm abgefahren sind, es also zu keinem Lawinenunglück hätte kommen dürfen. Hierzu ist festzustellen, dass ein Skilehrer keineswegs berechtigt ist, Skigruppen im Hochgebirge zu führen. Es sind dies lediglich die geprüften Bergführer und Skiführer.

Die OST Innsbruck war damals zwei Tage lang im Dauereinsatz. Als erster kam Klaus Patsch im Hubschrauber des Innenministeriums auf die Lawine. Er war zufällig am Flugplatz, als die Meldung vom Lawinenunglück per Telefon hereinkam. Der Hubschrauber war damals noch nicht fix in Innsbruck stationiert, sein Heimatflughafen war Wien. Jetzt galt es sofort zu handeln. Der erste Flug war von großer Bedeutung, weil man sich dadurch sehr schnell einen guten Überblick über die Situation machen konnte. Per Funk konnte direkt vom ungewöhnlichen Ausmaß des Lawinenabgangs berichtet werden und dadurch die weiteren Maßnahmen zielgerichtet ergriffen werden.
Klaus Patsch erzählt noch eindrucksvoll von den gewaltigen Ausmaßen des Lawinenkegels, auf dem man wohl relativ bald den ersten toten Skifahrer gefunden hatte, aufgrund der Lage und der Verschüttungstiefe jedoch schnell klar wurde, dass man hier wohl keine Lebendbergung zu erwarten haben wird. Es wurde sondiert, geschaufelt und riesige Gräben ausgehoben. Teilweise lagen die Verschütteten 6 Meter tief vom Schnee begraben. Von den ausgehobenen Gräben hatte man seitlich in die Schneewände hineinsondiert und dabei auch die letzten Vermissten gefunden.
Hubert Niederegger erinnert sich noch gut an die Situation, als er mit der Sonde auf einen Menschen stieß. Beim Ausgraben fanden die Retter aber nicht einen Verschütteten, sondern zwei ineinander verwickelte Körper, die von der Lawine offensichtlich derart stark verwirbelt wurden, dass sie gemeinsam keine Chance mehr hatten an der Oberfläche zu bleiben.
Der OSL der BR Innsbruck, Dr. Gerhard Flora hatte die traurige Aufgabe bei neun jungen Menschen durch intracardial gesetzte Spritzen, den eingetretenen Tod festzustellen. Hauptsächlich diese erschütternde Tatsache, auch als Arzt keine Chance zu sehen, bei einem Lawinenereignis helfen zu können, wenn man erst im Zuge einer angelaufenen Rettungsaktion zu den Opfern gerufen wird, hat Dr. Flora zu einem weitreichenden Schritt veranlasst. Von diesem Tag an hat er all seine Bemühungen darauf konzentriert, dass bei schweren Unfällen, vor allem aber bei Lawinenunglücken, immer auch ein Bergrettungsarzt sofort mit ausrückt. Diese fixe Idee von Dr. Flora führte später zur Errichtung der bergrettungsärztlichen Flugbereitschaft, die rund um die Uhr einsatzbereit war. Außerdem sind die wichtigsten Innovationen auf dem Gebiet der Verbesserung der Überlebenschancen für Lawinenverschüttete, von den von Dr. Flora 1971 ins Leben gerufenen Bergrettungsärztekongressen ausgegangen. Der geistige Hintergrund all dieser Bestrebungen beruht auf den Eindrücken dieses Geschehens bei der Kemater Alm.
Dieses Lawinenereignis stellt die bisher größte Tragödie von touristisch ausgelösten Lawinen in Tirol dar. Die Such- und Bergungsaktion ist allen Beteiligten als große Strapaze in Erinnerung, die Mannschaft wurde damals bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gefordert.

Hier gibt es auch noch den Bericht von Patsch Klaus.

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