Ein extremer Klettereinsatz junger Bergretter 1970!
Ein Unfall kann überall passieren wo sich Menschen bewegen. Interessant ist, dass die Häufigkeit von Unfällen zunimmt, je leichter das Gelände ist in dem sich ein Tourist bewegt. Das hängt natürlich auch mit der unterschiedlichen Anzahl von Menschen ab, die sich in den stark differierenden Geländeformen unserer Heimat bewegen. Je schwieriger der Anstieg, desto weniger Leute kommen dafür in Frage, desto geringer wird auch die Wahrscheinlichkeit von Unfällen. Das Gegenteil ist im leichteren Gelände der Fall. Die meisten Einsätze müssen wir auf Wanderwegen leisten.
Im Kletterfels passiert im Verhältnis zu den zahlreichen Begehungen nur selten ein Unfall, der eine Bergungsaktion erforderlich macht. Wenn jedoch im Steilfels nach einem Sturz ins Seil verschiedene Umstände eine Kameradenrettung nicht ermöglichen, dann kann es für den Betroffenen sehr ernst werden. Das tragische Ende eines Kletterers aus Dortmund ist nicht nur als Beispiel für derart unglückliche Umstände zu sehen, sondern auch als einer der schwierigsten Einsätze für die Bergrettung Tirol zu werten, die jemals geleistet werden mussten.
Die Nordwand der östl. Praxmarerkarspitze 2636m im Karwendel hat eine bewegte Geschichte, was aufsehenerregende Alpinunfälle betrifft. Bereits 1901 verunglückten hier Otto Melzer und E. Spötl tödlich beim Versuch der Erstbegehung. Das ergab damals große Aufregung, Otto Melzer war ein erfolgreicher Erschließer von neuen Anstiegen auf die Gipfel unserer Heimat. Sein Tod wurde allgemein als großer Verlust empfunden.
1921 folgte eine Dreierseilschaft von Gipfelstürmern (Schuster, Netzer, Aichner) den Spuren Melzers und kam etwa die Hälfte der 600m hohen Wand hinauf. Nach einem Sturz des Seilersten, der eine ernste Verletzung nach sich zog, war weder ein Weiterklettern, noch ein Rückzug möglich. Ein Wettersturz zwang die drei Kletterer vor Ort auszuharren bis die erhoffte Rettungsmannschaft eintreffen würde. Beispielhaft für die „Organisation“ der damaligen Bergrettung, war schon die Planung zu dieser Erstbegehung. Beim Aufbruch machte man mit den Kameraden zu Hause aus, dass diese eine Rettungsexpedition starten sollten, wenn sie nach zwei Tagen nicht zurückgekommen sind. Erst am dritten Tag wurde eine Gruppe zur Erkundung auf die Hinterödalm entsendet. Nach deren Bericht wurden in der Folge an weiteren drei Tagen Rettungsversuche unternommen. Erst am siebten Tag, nachdem die wackeren Gipfelstürmer bereits sechs Mal an der gleichen Stelle in der Wand biwakiert hatten, konnten sie schließlich gerettet werden. Im Tal angekommen, führte man die tapferen Retter mit einer Kutsche hinaus nach Scharnitz.
Dieses außergewöhnliche Alpinereignis hatte riesigen medialen Niederschlag gefunden. Alle Zeitungen berichteten ständig über die Situation in der Praxmarerkar Nordwand. Sogar in England hatte man diese Geschichte verfolgt. Die Besonderheit an diesem Unglück war die Umgebung in der es stattfand. Die absolute Abgeschiedenheit hoch über der Isar im Hinterautal, das unbekannte, noch nicht erschlossene, brüchige Felsgelände, war mit keinem Anstieg in den übrigen Klettergebieten Tirols vergleichbar. Damals wurde ein Mythos geboren, der sich bis heute noch in den Wänden der Praxmarerkarspitzen fühlen lässt.
Speziell unterstrichen wurde dieser Mythos durch die Beschreibung von Hermann Buhl in seinem Buch „Achttausend drüber und drunter“, in dem er den späteren Anstieg durch die Östl. Praxmarerkarspitze Nordwand, eröffnet 1935 von Hannes Schmidhuber und Hias Auckenthaler, als die gefürchtetste Klettertour im Karwendel und den Gipfel als einen „sterbenden Berg“ bezeichnet hat. Nur sehr wenige Wiederholungen dieser Tour gibt es bis heute. Schwierigkeiten im VI. Grad, schlechte, uralte Haken und unglaubliche Brüchigkeit des Felsens sind die Zutaten, die dieser Route wohl höchste Anerkennung für die Erstbegeher einbrachte, aber den Kreis von Wiederholern stark einschränkte. Wer sich an diese Tour wagte, musste sich über gravierende Folgen im Klaren sein, sollte es zu einem Unfall in dieser Wand kommen.
Für eine Bergung aus dem überhängenden Teil der Praxmarerkarspitze N-Wand hatte man bis Mitte der 1970er Jahre kaum eine Möglichkeit von oben den Verletzten zu erreichen. Zu hoch, zu unübersichtlich, zu steinschlaggefährdet ist der obere Wandteil, als dass man mit den damals üblichen Stahlseilen mit 100m Länge, einen frei unter den Überhängen baumelnden Verletzten hätte bergen können. Es blieb somit nur das Erreichen der Unfallstelle von unten. Für die Bergrettung bedeutete dies, dass alles davon abhing ob jemand zur Verfügung stand, der willens und in der Lage war, die gefürchteten Seillängen mit einem Partner hinaufzuklettern und im Bereich der Schlüsselstelle den Gestürzten zu bergen. Damals war es für die Bergrettung unerlässlich, Alpinisten in ihren Reihen zu haben, die für solche Einsätze in Frage kamen.
Die Bergungsaktion vom 3. August 1970 aus dem zentralen Bereich der dir. Praxmarerkarspitze N-Wand stellt insofern ein Unikat dar, als es sich dabei um eine der schwierigsten und gefährlichsten Einsätze handelt, die klettertechnisch je in Tirol zu bewältigen waren.
Zwei Kletterer aus Dortmund und München stiegen am Sonntag früh morgens in die Auckenthaler-Schmidhuberführe ein. Etwa 6 Begehungen waren bisher bekannt. Vom Stand nach dem Kriechband kletterte der Dortmunder voraus, bis ihm ein alter Ringhaken ausbrach, den er zu stark belastet hatte. Er stürzte an seinem Kameraden vorbei, bis ca. 6m unter das Band, wo er frei in der Luft hängenblieb. Er muss schwere Verletzungen erlitten haben, weil es ihm nicht mehr gelungen ist, den Felskopf links neben ihm zu erreichen. Durch eine beherzte Pendelbewegung wäre dies gut möglich gewesen. Sein Kamerad sah alleine keine Möglichkeit ihn aus dieser Lage, ohne seine Mithilfe, befreien zu können. Damals hatte man noch kaum Sitzgurte in Verwendung und das Anseilen lediglich um die Brust, ermöglicht ein freies Hängen ohne Felskontakt nur kurze Zeit. Ohne rasche Entlastung ist das Schicksal des Kletterers besiegelt.
Der Münchner Kletterer fixierte seinen Kameraden am Standhaken und machte sich um ca. 14h daran, sein eigenes Leben zu retten. Ein Hilfeschrei wird in dieser Gegend von keinem Menschen vernommen. Zunächst musste er den heiklen Kriechquergang zurückklettern, erst danach konnte er sich mit dem restlichen Seil über die Route abseilen. In Anbetracht der psychischen Belastung, die er zu verkraften hatte, ist der erfolgreiche Abstieg aus dieser brüchigen Wand und der anschließende Marsch hinaus nach Scharnitz eine respektable Leistung.
In Scharnitz konnte endlich die Unfallmeldung gemacht werden. Heinz Kleißl von der BR Seefeld/Scharnitz übernahm den Einsatz um ca. 19h und verständigte sofort auch die OST Innsbruck für die zu erwartende Extrembergung. Eine erste Gruppe, bei der Werner Haim als Experte dabei war, fuhr mit dem Jeep ins Karwendel bis zum Lafatscher Hochleger. Von hier gingen zwei Mann noch in der Nacht zum Wandfuß und versuchten Rufkontakt mit dem Gestürzten aufzunehmen. Nachdem jedoch nicht das geringste Zeichen vernommen werden konnte, musste mit dem Schlimmsten gerechnet werden.
Man übernachtete im Hochleger und erwartete die zweite Mannschaft, die am Montag um 05h früh in Innsbruck gestartet war, um beim ersten Licht gemeinsam eine Bergung zu versuchen. Die zweite Mannschaft wurde verstärkt durch die soeben von der BR-Hindukusch Expedition zurückgekehrten Kameraden Horst Bergmann und Dr. Raimund Margreiter.
Von der Alm war ein Marsch von einer Stunde bis zum Wandfuß zurückzulegen, dann konnte die Situation erkundet und besprochen werden. Der wie leblos hängende Körper des gestürzten 25-jährigen Deutschen ließ bereits die Aussichtslosigkeit eines Rettungsversuches erahnen. Trotzdem wollten wir alles versuchen, um Gewissheit zu erlangen und die jedenfalls erforderliche Bergung auch durchzuführen. Von oben kam eine Bergung mit den 100m-Stahlseilen nicht in Betracht. Zu unübersichtlich ist die Wand im oberen Teil und die gesamte Höhe mit 600m ist auch bereits grenzwertig für ein Manöver, das in den Überhängen stattfinden und von oben gesteuert werden sollte. Wir entschlossen uns deshalb die Bergung von unten durchzuführen. Dadurch wird weniger Seil benötigt und vor allem die Sicht vom Wandfuß aus zur Tätigkeit bei der Bergung, bietet einen wesentlichen Vorteil für die Steuerung der Stahlseilbewegungen.
Seppl Lessiak und Walter Spitzenstätter stiegen als Seilschaft in die Route ein. Spitzenstätter, der den Anstieg bereits von der 5. Begehung mit Robert Troier kannte, kletterte voraus und Lessiak als zweiter, hängte sich das Ende des Stahlseiles an, das er für die Abseilaktion von unten mitnehmen musste. Anfänglich ist das Nachziehen des Stahlseiles kein Problem, doch je weiter man in der Wand vorwärtskommt, umso stärker wird der Zug, der am Seil lastet. Diese zusätzliche Belastung in einem Gelände das den höchsten Schwierigkeitsgrad aufweist, ist nur als Seilzweiter zu bewältigen. Obwohl wir vor dem Einstieg in die Wand ausgemacht hatten, dass nach ca. 100m ausgegebenem Stahlseil, eine zweite Seilschaft nachsteigen sollte, um beim Nachziehen behilflich zu sein, fand sich niemand mehr, der in diesem gefährlichen „Bruchhaufen“ nachsteigen wollte. Somit blieb die gesamte schwere Arbeit nur bei der einen Seilschaft hängen. Seillänge für Seillänge musste zunächst erklettert werden, dann musste das Stahlseil nachgezogen und fixiert werden, erst dann konnte der Partner nachklettern. Diese Manöver bis in die halbe Wandhöhe dauerten fünf Stunden lang, bis sich endlich alles auf der Höhe des Gestürzten befand.
Am Band nach dem Kriechquergang war der Stand erreicht unter dem ca. 6m tiefer der Gestürzte hing. Schon beim Vorbeiklettern hatte man Gewissheit darüber, dass der Kletterer bereits schon lange tot sein musste. Alles wies eindeutig darauf hin.
Mit großer Gewissenhaftigkeit wurde nun mit einem 50m-Seil eine Zweikreis-Verankerung gebaut, die mit vielen Haken, trotz der Brüchigkeit des Geländes, eine beruhigende Sicherheit für die Abseilaktion lieferte.
Am Wandfuß bauten die Kameraden die Verankerung für die Bremstrommel an einem riesigen Felsblock und warteten gespannt bis Lessiak als Retter zum Gestürzten abgeseilt werden sollte. Oben in der Wand wurde eine Umlenkrolle in die Verankerung eingehängt, über die das Stahlseil gelegt wurde, an dem die Bergung von unten gebremst, durchgeführt werden konnte.
Lessiak konnte den leblosen Körper mit dem Seil, an dem der Tote hing, übernehmen und gemeinsam wurden beide am Stahlseil bis zum Einstieg abgelassen. Die besondere Gefahr bei dem Manöver bestand in der Tatsache, dass das Stahlseil zweimal gekuppelt werden musste und die Kupplungsstücke über die Umlenkrolle laufen mussten. Obwohl die Kupplungen die Rolle tadellos passieren, wenn sie frei hängen, kann es doch geschehen, dass sie an der Umlenkrolle stecken bleibt, wenn diese am Fels aufliegt. Tatsächlich hatte sich die Rolle durch die unterschiedlichen Be- und Entlastungen seitwärts gedreht, wodurch sich das zweite Kupplungsstück verklemmte.
Durch die Anwesenheit von Spitzenstätter an der Abseilstelle, konnte die heikle Situation unter kräftiger Mithilfe von Lessiak, der einen Moment Entlastung erzeugen musste, geklärt werden, wodurch schließlich Lessiak mit seiner traurigen Last, sicher den Wandfuß erreichen konnte. Nicht auszudenken, welche Folgen sich ergeben hätten, wenn niemand mehr an der Umlenkrolle für die Korrektur zur Verfügung gestanden wäre.
Nach erneutem Aufziehen des Stahlseiles, wurde Spitzenstätter abgeseilt, der vorher die Umlenkrolle durch eine Verlängerung in eine sicher freihängende Position umgebaut hatte. Diese Aktion hat tadellos funktioniert, wodurch auch der zweite Retter mit dem restlichen Material abfahren konnte. Beim Abziehen des Stahlseiles verhängte sich allerdings das Seil erneut und musste hängengelassen werden.
Es war inzwischen später Nachmittag geworden, der Tote wurde ca. 100m unterhalb des Wandfußes zum Hubschrauber-Landeplatz gebracht, von wo er am nächsten Tag (Dienstag) gegen Mittag von der Libelle abgeholt wurde. Nach dem Rückmarsch zum Lafatscher Hochleger und der Fahrt über Scharnitz nach Innsbruck, ist es fast Mitternacht geworden, bis wir diesen ebenso traurigen, wie unvergesslich schwierigen Einsatz zu Hause beenden konnten. (spitz)
—
Nach genau 50 Jahren meldet sich der Seilgefährte des damals verunglückten Kletterer bei der Bergrettung Innsbruck und schildert in einem bewegenden Brief das damalige Geschehen…
Original Abschrift:
Betrifft: Beschreibung Bergrettung in der Östlichen Praxmarerkarspitze Nordwand im Jahr 1970
Verehrte Mitglieder der Tiroler Bergrettung,
zuerst ein Hinweis wer ich bin:
Die Bergrettung hatte am 3.August 1970 eine außerordentlich schwierige und gefährliche Bergung eines toten Kletterers aus Dortmund aus der Nordwand der Östl. Praxmarerkarspitze durchgeführt. Der Seilgefährte des Verunglückten war ich, der Verunglückte war Hartmut Schmidt.
Es ist nun ein halbes Jahrhundert her, daß mein Freund sterben mußte und ich nichts dagegen machen konnte. Als Achzigjähriger durchstreife ich oft das Internet und spüre Ereignissen und Lebensläufen von Bergsteigern nach. Dabei bin ich jetzt auf die Schilderung der Bergung von Hartmut in der Internetseite der Bergrettung Tirol – Innsbruck gestoßen. Ich habe mich all die Jahre gefragt, wie wohl die Bergung durchgeführt wurde. Ich wußte, daß Werner Haim, den ich 1966 auf der Rückfahrt mit dem Schiff von Peru kennen lernte, an der Bergung beteiligt war. Ich scheute aber den Kontakt um nicht noch weiteres Schlimmes zu erfahren, als ich ohnehin schon erleben mußte. Auch hatte ich die Route vorgeschlagen, was mich lange Zeit belastet hat. Einzig die Tatsache, daß Hartmut kurz vorher die Lalidererverschneidung geklettert ist, gab mir den Trost, daß er mit Karwendelfels umgehen konnte.
Den Sturz habe ich damals nicht beobachten können, denn ich hatte meinen Rucksack zum Schutz von Steinen über dem Kopf weil Hartmut an der Absturzstelle brüchiges Gestein abgeräumt hat. Mein letzter Satz zu ihm war: „Versuche einen Haken zu schlagen“ und er antwortete: „Pass lieber auf!“ Dann stürzte er ab, ohne mich zu berühren. Er hing mehrere Meter unterhalb meines Standplatzes und war bewußtlos und völlig bleich im Gesicht. Obwohl ich keine Hoffnung mehr hatte begann ich ihn mit Schulterhub zu mir nach oben zu ziehen (am folgenden Tag war mein Rücken mit vielen dunkelblauen Streifen bedeckt. Es waren Blutergüsse vom Zugseil). Ich konnte ihn bis zum Überhang hochziehen, dann war die Reibung zu groß und ich mußte aufgeben. Ich fixierte ihn am Standplatz. Dann kam der nervlich schwierigste Teil meiner Selbstbergung. Ich mußte mich zu ihm abseilen um ihm die Haken und Karabiner für meinen Rückzug abzunehmen. Dann gelang es mir mit Prusikschlingen wieder zum Standplatz hochzusteigen, wo ich wieder Felsberührung hatte. Das anschließende Zurückklettern und Abseilen erfolgte mit höchster Konzentration um nicht einen Leichtsinnsfehler zu begehen.
Als ich nach der letzten Abseillänge am Einstieg im Kar stand, hörte ich plötzlich im obersten Wandteil Steinschlaggeräusche. Panikartig raste ich mit großen Sprüngen das Kar hinunter um in den rechts anschließen Wald zu kommen. Dabei zog ich das Seil hinter mir her, ich weiß heute nicht mehr wie und warum. Es gelang mir hinter den Bäumen Schutz zu finden. Aus einem kleinen Steinschlag hatte sich eine große Steinlawine entwickelt und im Staub sah ich wie große Felsbrocken das Kar hinabdonnerten. Wenn ich heute die Beschreibung der damaligen sehr schweren Bergung von Hartmunds Körper lese, so ist es eine grauenhafte Vorstellung, daß die Männer der Bergrettung in eine solche Lawine hätten geraten können. Gerade deshalb möchte ich meinen Dank und meine Bewunderung für die Leistung nachträglich mitteilen –auch wenn das Ereignis schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt.
Berg Heil am 28.7.2020
Uwe Kerner